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Demokratieunterricht? - Wie lässt sich die Demokratie in Deutschland erhalten?

Die freiheitliche Demokratie in Deutschland ist es wert zu erhalten. Doch wie? Viele Forderungen schwirren durchs Land. Nur wenige erscheinen vor dem Hintergrund weltanschaulicher Neutralität sinnvoll.
Demokratieunterricht? - Wie lässt sich die Demokratie in Deutschland erhalten?
CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Immer wieder macht die Forderung nach einem Schulfach Demokratie die Runde. Verständlicherweise, scheint es. Der öffentliche Diskurs scheint insgesamt populistischer und meinungsabhängiger zu werden. Versteckt autokratische Bewegungen werden stärker und die Welt beschleunigt sich, wird komplizierter. Mit der Ausbreitung von KI geben wir diese Ausdifferenzierung sogar weiter aus der Hand, indem menschliches Handeln automatisiert und exponentiell vervielfältigt wird. So steigt das Bedürfnis nach einer guten politischen Rahmensetzung, um den Kontrollverlust auszugleichen - gleichzeitig differenziert sich weiter aus, was als gute Politik empfunden wird, und die Macht der Politik selbst schwindet. Schon 2010 diskutierten wir im Sozialwissenschaftsunterricht darüber, wie viel Macht Regierende aufgrund der Globalisierung überhaupt noch haben. Von Anfang an also zu lernen und zu hinterfragen, was Demokratie auszeichnet, um die Zukunft der Demokratie zu sichern, klingt da gut und richtig!

Trotzdem offenbart die Forderung nach Demokratieunterricht ein fatales Missverständnis freiheitlichen Miteinanders. Wenn Demokratieunterricht nämlich etwas anderes sein soll als Politikunterricht, in dem politische Grundlagen und Systeme erlernt, hinterfragt und ins Gespräch gebracht werden, dann steckt hinter dieser Forderung ein Zurücklassen der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Der Staat soll dann nämlich als Wertestifter auftreten und seine Bürger zu demokratischem Handelnden erziehen. Eine Forderung zwar, die nachvollziehbar ist: der Staat ist ja für seine Existenz darauf angewiesen, dass Werte gelebt werden, die ihn möglich machen. Und doch: setzt nicht die Entscheidung zur Prägung bestimmter Werte bereits weltanschauliche Prägung voraus?

Mancher würde sagen, was demokratische Werte sind, sei klar: Toleranz, Weltoffenheit, Freiheit und Respekt... Oder, um es mit der französischen Aufklärung zu sagen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Doch schon dabei, worin "Toleranz" genau besteht, was "Freiheit" bedeutet, unterscheiden sich die Meinungen. Ist "Toleranz" das einfache Aushalten der Ansichten des Anderen, oder bedeutet sie, den Anderen in seinen Ansichten und seiner Identität anzunehmen, ja sogar gutheißen zu sollen und vorhandene Vielfalt zu zelebrieren? Entsteht "Freiheit" dadurch, das tun-und-lassen zu können, was man will und dafür gefeiert zu werden, oder dadurch, eigene Grenzen einzusehen und sich in diesen Grenzen zurechtzufinden? Und von welcher Freiheit reden wir überhaupt?

Diese Fragen werden philosophisch diskutiert. Worte können unterschiedlich gefüllt werden und bekommen, je nach philosophisch-ethischer Ausrichtung und Weltanschauung, einen unterschiedlichen Inhalt. Ist es nicht gerade Merkmal freiheitlich-demokratischen Miteinanders, dass diese Wertefüllung immer wieder neu im Gespräch miteinander ausgetragen und verhandelt wird?

Der echt demokratisch-freiheitliche Staat entscheidet sich meines Erachtens für weltanschauliche Neutralität, um dieses Gespräch zu ermöglichen, statt sich von vornherein festzulegen. Sonst wird er paternalistisch, ideologisch und nimmt seine Bürgerinnen und Bürger eben nicht als demokratisch Handelnde, sondern als Untergebene wahr, die er zu kontrollieren hat. Auch wenn die Angst verständlich ist: so wird die Zukunft der Demokratie nicht gesichert.

Die Bedeutung der weltanschaulichen Neutralität des Staates

In weltanschaulicher Neutralität liegt die Stärke, dass der Staat sich nicht absolut setzt und die Freiheit und Würde des Einzelnen so gewährleistet wird. Weltanschauliche Neutralität sieht jeden grundsätzlich als gleichwertig an und bemüht sich um Gespräch. "Gleichwertigere" Personen kann es in einem weltanschaulich neutralen Staat nicht geben. Die Person selbst, also jede Person, ist immer als Gesprächspartner anzuerkennen und miteinzubeziehen. Einen radikalen Ausschluss der Person darf es für den Staat und seine Träger daher nicht geben - der Verteufelung des demokratischen Mitbürgers, selbst wenn der die Demokratie ablehnt, ist staatlicherseits entschieden entgegenzutreten, weil der Staat sich sonst seiner Legitimation beraubt. Jeder Einzelne hat Beteiligungsrechte, auch wenn es klare Bedingungen solcher Beteiligung geben muss: einen Feind freiheitlicher Ordnung ins demokratische Gespräch einzuladen untergräbt natürlich das Gespräch selbst. Der demokratisch Regierende muss seine Politik einfach vor dem ganzen Volk verantworten, transparent machen und den Bedürfnissen seiner "Mitregenten" Gehör schenken; gleichsam er nicht für jedes Bedürfnis verantwortlich ist und nicht jedes Bedürfnis stillen kann und auch nicht darf.

Damit ist auch schon eine riesige Schwäche weltanschaulicher Neutralität angedeutet: Der Staat hat eine immense Verantwortung, gibt dafür aber seine eigene Grundlage aus der Hand. Er kann sich nicht selbst schaffen und erhalten, sondern ist eben auf das Gespräch seiner Staatsbürger angewiesen und ihre Bereitschaft, miteinander im Gespräch zu sein. Er kann Gesprächsforen schaffen, er kann Bürgerinnen und Bürgern durch Bildung die Möglichkeit verschaffen, am Gespräch teilzuhaben (übrigens eine gute Begründung für kostenlose Bildung...). Der demokratische Staat kann sogar Gruppen und Einzelne überprüfen, ob sie treu zu ihrem eigenen Wort stehen, die Demokratie zu achten, und bei begründetem Misstrauen von Verantwortung ausschließen. Doch Werte prägen, das muss die Zivilgesellschaft selbst, sonst macht er sich selbst zur weltanschaulich-religiösen Institution.

Diese Abhängigkeit von der Kultur des Landes macht den modernen, freiheitlich-demokratischen Staat unglaublich fragil. Der Aufschrei zur Zeit ist berechtigt! So mancher Lösungsversuch untergräbt jedoch die freiheitliche Demokratie selbst. Um nachhaltig Macht auszuüben, greift jede Herrschaft auf kulturelle, auf religiöse Prägung zurück. So verständlich das ist: Ein weltanschaulich-neutraler demokratischer Staat ist auf religiös-weltanschauliche Institutionen und Gemeinschaftskulturen angewiesen, die Werte zu schaffen, die seine Existenz gewährleisten. Wenn diese kulturellen Institutionen ihren Rückhalt verlieren, dann schwindet auch die Demokratie.

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Da ist auch mehr Teilhabe an Entscheidungen, z.B. durch direkt-demokratische Maßnahmen, keine Lösung, sondern führt vermutlich eher zu noch mehr Populismus und Auflösung der weltanschaulichen Neutralität.

Die freiheitliche Demokratie ist vielmehr darauf angewiesen, weltanschauliche Akteure und Institutionen zu fördern, die sich für eine Kultur des Gesprächs stark machen und Demokratie inhaltlich füllen, ohne selbst Partei zu ergreifen.

Wie lässt sich die Zukunft der Demokratie in Deutschland also sichern? - Drei Standbeine

Bildung

ist sicherlich das A und O guter demokratischer Politik. In diesem Licht betrachtet offenbart das deutsche Schulsystem gerade im Bereich der politischen Bildung deutliche Mängel. Politikunterricht sollte tatsächlich deutlich höhere Priorität als bisher bekommen. Dass man bisher darauf meinte, auf breiter Linie verzichten zu können, überrascht, liegt aber vermutlich an drei Dingen:

  1. Die deutsche Demokratie ist noch nicht alt. Die Katastrophe der beiden Weltkriege, die Aufbauhilfe der westlichen Demokratien, sowie das Scheitern des Kommunismus führten außerdem zu starken Selbstverständlichkeiten. Die Ablehnung extremer antidemokratischer Positionen, beruht wohl vor allem auf der Verbindung allgemein steigenden Wohlstands mit der menschlichen Erfahrung, die der Philosoph Robert Merrihew Adams "Moral Horror" genannt hat:[1] man erschreckte vor der Gewalt und wünschte sich, Dinge im Licht dieser Erfahrungen zu verändern.
  2. Die deutsche Gesellschaft beruhte bisher auf jahrhundertelanger christlicher Prägung. Auch wenn die Bedeutung christlichen Glaubens schon lange nachlässt, nimmt immer noch ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft an christlichen Traditionen teil. Zwar taten sich die großen Kirchen in Deutschland mit Demokratie erst einmal schwer, jedoch beruhen christliche Weltanschauungen in der Regel auf persönlicher Ansprache und damit auf Gespräch. Der Einzelne gilt als wichtig, soll sich jedoch auch nicht für zu voll nehmen. Der Dienst am Anderen ("Liebe deinen Nächsten"), war durch alle Staatsformen hindurch Christenpflicht. Außerdem kreiert der Gottesglaube grundsätzlich eine moralische Formierung, die sich einer höheren Autorität gegenüber verpflichtet weiß und somit das Potenzial in sich birgt, das eigene Ego zu dämpfen. Dadurch haben die Kirchen immer auch versucht, dem Staat gegenüber Gesprächspartner zu sein und setzen sich heute weltweit fast selbstverständlich für Religionsfreiheit ein.
  3. Der deutsche Staat hat bereits einen Weg geschaffen, seine eigene Existenz zu sichern, indem er eine eigene Rechtsform für weltanschauliche Gruppierungen geschaffen hat, die sich zur Unterstützung der Staatsform verpflichten: Weltanschauungsgemeinschaften dürfen "Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR)" werden und bekommen damit auch das Recht zugesprochen, Religionsunterricht zu halten, ihre Mitglieder zu besteuern und sich am kulturellen Leben öffentlicher Institutionen zu beteiligen. Das mag auch aufgrund der starken Stellung der Kirchen einfach historische Gründe haben. Gleichzeitig hat sich der deutsche Staat hiermit eine Ergänzung geschaffen, die Fürsorge für ein demokratisches Miteinander bereits leistet.

Die Rolle von Gemeinschaften in der moralischen Formierung sichtbar zu machen

ist somit neben der Bildung ein zweites wichtiges Standbein, um Demokratie in Deutschland lebendig zu machen. Dazu zählen implizit auch Online-Communities und Bubbles. Wollen wir in Deutschland wirklich eine echte Demokratie bauen, in der potenziell jeder mit eingebunden wird, kann das, meiner Meinung nach, wirklich konstruktiv nur darüber gehen, dass gesellschaftliche Gruppierungen ihre Rolle bei der moralischen Formierung selbst einsehen und sich als Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften reflektieren, ähnlich vielleicht, wie das die christlichen Kirchen schon lange tun. Denn es sind ja genau diese, die Werte prägen.

Sicherlich sehen sich die meisten gesellschaftlichen Bewegungen nicht als religiös. Vom Wortsinn her betrachtet stimmt diese Selbsteinschätzung jedoch nicht: "Religion", von (lat.) "religio", heißt nichts anderes als "Verehrung". Verehren die meisten Bewegungen nicht etwas? Treten sie nicht für bestimmte Werte ein und füllen sie inhaltlich? Diese Bewegungen prägen die Werte unserer Gesellschaft, kreieren damit Weltanschauung, z.T. ohne dass ein tiefes Gespräch zu Stande kommt. Doch genau das braucht unsere Demokratie: Mehr Gespräch und kritisches Auseinandersetzen in anerkanntem Religionsunterricht und in öffentlichen Gesprächsforen über Religion - und gerade nicht, dass Religion und weltanschauliche Auseinandersetzung ins Private verbannt wird.

Vor allem braucht es uns als Zivilgesellschaft, also jeden Einzelnen von uns.

Die Neuen Medien haben schnelle, weltweite Vernetzung gebracht. Für manchen ist es relevanter geworden, was in New York City, Berlin oder Istanbul passiert, als was in der eigenen Nachbarschaft geschieht - z.B. weil ein enges Familienmitglied gerade dort wohnt oder eine Veranstaltung dort stattfindet, die einen betrifft. Der vom chinesischen Daoismus beeinflusste, vegane Lifestyle-Influencer aus L.A. ist mir möglicherweise näher als der Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde um die Ecke; der radikale Politiker aus einem entfernten Bundesland für mich bedeutsamer als die Bürgermeisterin meiner Stadt oder irgendeiner der Stadträte. Die Vernetzung bringt somit, zwangsläufig, auch ein Auseinanderdriften der Gesellschaft mit sich. Sie führt zur Individualisierung von Lebensentwürfen, die der demokratisch-freiheitliche Staat zusätzlich absichert. In so einem Umfeld, wird Lokalpolitik und der Andere, der am selben Ort wohnt, schnell zum (gefühlten) Räuber der eigenen Freiheit, schließlich ist es er, ist es sie, mit der ich im Alltag zurechtkommen muss. Und je geschlossener die eigene Weltanschauung ist und je abweisender sich die eigene Community zum Fremden verhält, desto schwieriger wird Demokratie vor Ort. Genauso versagt freiheitlich-demokratische Ordnung, wenn einander-ausschließender öffentlicher Diskurs die Oberhand gewinnt.

Es braucht jeden einzelnen von uns, um Demokratie zu bewahren. Durch Einsatz für offene Gesprächsräume und in demokratischen Institutionen, im Protest auf der Straße und der einfachen Begegnung mit Fremden, wie im persönlichen Gespräch. Im Betonen der Errungenschaften der deutschen Demokratie und im Einladen, an diesem faszinierenden Projekt teilzuhaben! Meckern - dieses urdeutsche Laster! - bringt wenig. Stattdessen gilt es, selbst voranzugehen. Ja, die goldene Regel zu leben: Was du von anderen erwartest, das tue selbst.[2] Wenn freiheitliche Demokratie eine gute Idee ist, dann kann es nämlich nicht der Staat sein, der sich für die eigenen Werte einsetzen soll. Es müssen wir selbst sein, die vor Ort im Alltag Offenheit dem anderen Gegenüber zeigen und beweisen, dass freiheitliche Demokratie funktioniert. Ohne uns geht es nicht.


  1. vgl. Adams, Robert M. Infinite and Infinite Goods: A Framework for Ethics. New York: Oxford University Press 2002 ↩︎

  2. Auch ein biblischer Grundsatz aus Mt 7,12. ↩︎