Glaube an Gott – Wahrheit oder Ideologie?
Nähert man sich mit Pareysons Unterscheidung von Wahrheit und Ideologie der Frage nach Gott, stellt sich schnell die Frage, wie viel „Idee“ im Glauben steckt und wie viel davon tatsächlich wahrheitsgemäße Rede in diesem Sinne ist:
Wenn in den Religionen Gott oder bestimmte Glaubenssätze als „die Wahrheit“ verkündet wird, beschreibt das dann tatsächlich eine Realität, die etwas mit meiner eigenen Existenz als Mensch in dieser Welt zu tun hat, oder ist das alles „nur“ eine Idee, die womöglich für manches nützlich und für anderes wenig brauchbar ist?
Schaut man in die Geschichte lässt sich schnell feststellen: für den christlichen Glauben, für den allein ich zu sprechen wage, erscheint es geradezu konstitutiv, dass er sich der eigenen Existenz aussetzt; immer und immer wieder erneuert sich das Christentum. Nicht nur die kulturelle Pluralität, mit der das Christentum weltweit auftritt, beeindruckt mich. Auch scheint die weltweite Christenheit sich konstant weiterzuentwickeln. Je nach gesellschaftlicher Veränderung kommen Schwerpunkte im geistlichen Leben zu Tage, die dann oft nach einiger Zeit versteinern, was wiederum Reformbewegungen auslöst. Der christliche Glaube scheint sich kulturell immer wieder neu zu erfinden, wenngleich manche Fundamente die Zeiten relativ stabil überdauern.
Auch wenn das Christentum vielerorts auch ideologisch aufgetreten ist und auftritt; es würde der Dynamik und Vielgestaltigkeit des Christentums daher in keinster Weise gerecht werden, seine Geschichte auf bloße Idee zu reduzieren. Vielmehr scheint der christliche Glaube immer im Gespräch mit den Menschen seiner Zeit und daher im Fluss zu sein.
Der wohl zentralste Grund, den ich dafür finde, ist mitten im Kern des christlichen Glaubens, nämlich im Gottesverständnis, in der Gotteslehre, zu finden.
Der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, der „Vater Jesu“, den die Kirchen verkünden, ist im Großen und Ganzen keine ahistorische Größe. Gott, im christlichen Glauben, „offenbart“ sich. Wenn man nach dem einen Punkt sucht, in dem sich wohl alle Christen, in all ihrer Vielfalt, einig sind, ist es wohl der, dass Gott sich in der Geschichte zeigt.
Weder ein heiliges Buch im Himmel, noch ein festes starres Wort in einer hochheiligen Sprache oder ein steinernes Bild Gottes ist eigentlicher Maßstab christlicher Lehre. Geradezu umgekehrt: die Bilderlosigkeit Gottes, die in der Bibel angelegt ist, ist zentral und wird dann unterschiedlich ausgelegt. Es gibt auch nicht eine einzige Lebensgeschichte Jesu oder dergleichen, sondern eine Vielzahl an Erzählungen und Reflektionen, durch die Gott sichtbar werden soll. Diese menschlichen Erzählungen und Gedanken werden an konkreten Punkten der Geschichte als Gottes Worte geglaubt, erkannt und weitertradiert. So sehr sich Christen bemühen, ihren Glauben daher in Bekenntnissen festzuhalten: die Geschichtlichkeit Gottes lässt keine Erstarrung des Gottesverständnisses zu – stattdessen kommt es immer wieder zu neuen Reformbewegungen, da wo das passiert. Glaube bleibt daher fundamental unabgeschlossen, offen.
Am Eindrücklichsten wohl verdeutlicht die Lehre von der Dreieinigkeit diesen unabgeschlossenen Charakter des christlichen Glaubens an Gott. Die allermeisten christlichen Kirchen beschreiben Gott als drei „Personen“: als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Umständlicher geht es wohl kaum.
Fragt man den durchschnittlichen Kirchgänger nach einer Erklärung kriegt man meist keine wirklich nachvollziehbarere Antwort als die, dass sich Gott eben so gezeigt, so offenbart habe. Meiner Meinung nach zeigt sich hier, dass Gott eben nicht als Idee gesehen wird, nicht einfach "das absolute Gute" oder der "erste Beweger", "der Schöpfer" oder ähnliches ist; Gott mag das alles sein, doch wird Gott christlich vor allem als eine Macht gesehen, die sich persönlich zeigt.
Der "Kirchenvater" Gregor von Nazianz, der das bedeutsame konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis mitgestaltet hat, welches die Dreieinigkeitslehre zementiert hat, fasste diese Lehre im 4. Jahrhundert mit den Worten des Psalms 36,10 zusammen (5. Theologische Rede, §3):
"Denn bei dir ist die Quelle des Lebens. In deinem Licht sehen wir das Licht."
Eine unglaublich spannende Zusammenfassung eines Gottesverständnisses!
Als erstes wird Gott als "Quelle des Lebens" erkannt. Das heißt: in allererster Linie als Lebenskraft und -macht, die sich persönlich zeigt. So verstanden ist der christliche Glaube zutiefst mystisch: Gott wird verstanden als Quelle, zu der man kommen und aus der man schöpfen kann. Gott wird als Angebot erkannt. So auch im Neuen Testament: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Mt 11,28) Es ist hier eine Begegnung angesprochen: der Mensch begegnet einem Gegenüber, das einen positiven Impact im Leben macht.
Für die christliche Gotteslehre scheint entscheidend, dass Gott für den Menschen immer in Beziehung zu ihm existiert – die Erfahrung des Menschen ist maßgeblich. So lässt sich zwar viel über Gott spekulieren… eine Pointe der biblischen Texte, wie z.B. des Hiob-Buches, ist aber, dass Gott auftaucht und sich als der noch größere erweist. Er wird als "Licht" erkannt, das „unzugänglich“ (1Tim 6) bleibt.
Dieses Licht Gottes ist in der christlichen Lehre erkennbar in der geschichtlichen Person Jesus von Nazareth, der deshalb als „Christus“, „Messias“, „Retter“,… verehrt wird. Das "Licht", das "wir sehen", meint Gregor von Nazianz, ist nicht in erster Linie Gott-Vater, sondern Jesus von Nazareth. Eindrücklich formuliert es auch das Johannesevangelium:
"'Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.' … Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht aus mir selbst. Der Vater aber, der in mir bleibt, der tut seine Werke. Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen." (Joh 14,6-11)
Der Evangelist Johannes stellt Jesus als "Weg", "Wahrheit" und "Leben" vor, in dem Gott sichtbar wird. Diese Verse sind für das Christentum konstitutiv geworden. Jesus Christus wird hier eben nicht nur als kalte Wahrheit vorgestellt, nicht als Idee der Vollkommenheit und Vorbild des Guten oder ähnliches. Er wird als „Weg“ für den Menschen zu einem vollen Leben dargestellt; Gott selbst verkörpert sich in ihm. Und weil sich eben Gott, die Lebensquelle, in ihm, einem Menschen, verkörpert, kann Jesus für jeden Menschen Möglichkeit des Heils sein. In ihm drückt sich die Lebensfülle Gottes im Rahmen menschlichen Lebens aus. Und wem das schwerfällt zu glauben, soll auf Jesu Leben schauen, von dem in der Bibel in vier verschiedenen Perspektiven zeugnishaft erzählt wird.
Deshalb setzt Gregor folgerichtig Jesus Christus als Licht ins Zentrum: „In deinem Licht sehen wir das Licht.“
In Jesus, dem „Christus“, finden Menschen in dem Wirrwarr der Welt ihre Bestimmung als Menschen – das ist Zentrum der Verkündigung „christlicher“ Kirche.
Auch in der Lehre vom „Heiligen Geist“ drückt sich diese existentielle Dimension des Glaubens aus. Er ist, nach Gregor, das Licht „in dem“ das Licht Jesu erkannt wird.
Oder anders formuliert: Gott selbst, als Heiliger Geist, erschließt dem Menschen die Bedeutung des Gottessohnes für die eigene Existenz. Durch den Heiligen Geist erkennt mensch den Sohn als den, der er ist, und als den, der er für mich sein kann. Die Lehre vom Heiligen Geist drückt die Erfahrung des Glaubenden aus, der die Erkenntnis von Gott als ein Geschenk wahrnimmt und sich die eigene Perspektive auf das Leben durch die Nachfolge Jesu verändert.
In diesem Sinne, meine ich, sitzt tief im Herzen des christlichen Gottesverständnisses der Anspruch, menschliche Existenz zu erschließen und zu offenbaren. Nicht eine Idee, und dementsprechend ein ideologisches System, ist für das Christentum maßgeblich, sondern im Zentrum christlicher Lehre steht die Bejahung der Gegenwart und des offenen Dialogs um die Wahrheit, um Gott selbst. Der Christ beweist nicht seine Idee Gottes, sondern legt „Zeugnis“ von seiner Gotteserfahrung ab. Er kann gar nicht anders, als dem Anderen seine Freiheit einzugestehen, die er hat. Jeder Zwang zum Glauben verbietet sich ihm, weil sein Glaube fundamental an der unerschöpflichen Wahrheit Gottes hängt. Wer, in diesem Sinne, also „zu Gott“ findet, findet auch zum offenen Umgang mit seinem Nächsten.
Wo christliche Kirche ihrem eigenen Gottesverständnis gerecht wird, da wird geliebt und wird der Andere ausgehalten. Das ist ihr Zeugnis. Ohne verkommt es zur Idee. Das „Bodenpersonal Gottes“ mag an mancher Stelle verrosten oder Gott selbst, die Wahrheit, verpassen. Und doch ist der Keim der Reformation bereits in ihrem Gottesverständnis vorhanden. Christlicher Glaube setzt sich zutiefst der Wahrheitsfrage aus.
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